Rasieren

Eigentlich sollte die Überschrift länger sein, aber überlange Überschriften machen ein Blog unübersichtlich. Die längere Überschrift würde „Wie man beim Rasieren in einer zerfallenden Marktwirtschaft abrasiert wird“ lauten. Noch genauer wäre der Text: „Wie man bei allen Produkten in einer zerfallenden Marktwirtschaft abrasiert wird„.

Ich bin kein Freund von Einwegprodukten. Ganz im Gegenteil, ich halte diese „Ex- und Hopp“-Mentalität, das bedenkenlosen Füttern der Müllhalden und den verschwenderischen Umgang mit Resourcen aller Art für etwas Verantwortungsloses und Verachtenswertes; und so versuche ich alle Einwegprodukte zu vermeiden.

Bei diesem Programm kommt mir wohl entgegen, dass ich arm bin, denn in den meisten Fällen rechnet sich das Vermeiden von Einwegprodukten auch gut. Wenn man zum Beispiel an Stelle von Batterien Akkus verwendet, hat man die höheren Anschaffungskosten und den einmaligen Kauf eines Ladegerätes schon nach einigen Malen Aufladen wieder herausbekommen, so dass sich dieses Stückchen Verantwortung schon bald auch persönlich zu lohnen beginnt — und zudem wenig Müll produziert. (Das bisschen des Mülls ist allerdings auf der anderen Seite recht giftig, was diesen Teil der Bilanz wieder etwas trübt.)

Aber mein Verantwortungsgefühl kennt Grenzen, wenn es mir zu teuer wird. Auch das liegt daran, dass ich arm bin und mir jeden Cent zusammenbetteln muss — da habe ich unnötige Ausgaben nicht übrig.

Heute war bei mir die Anschaffung neuer Rasierklingen fällig, da die alten zu deutliche Blutspuren im Gesicht hinterließen. (Gestern fragte mich gar jemand, ob ich mich mit der Axt rasiert hätte.) Es gibt bei Rasierklingen keine wesentlichen Unterschiede zwischen den verfügbaren Marken, jedenfalls keine, die so gewaltig wären, dass sie die zum Teil absurden Preisunterschiede rechtfertigen könnten. Deshalb mache ich stets den billigsten möglichen Kauf.

Mit dieser Absicht ging ich in einen Rotzmann Rossmann hinein, der auf meinem Weg lag und noch geöffnet hatte. Dort sichtete ich in aller Ruhe (ich habe immer viel Zeit beim Kaufen) das gesamte Angebot. Die zurzeit billigste Form, Rasierklingen zu erwerben, sind markenlose Einwegrasierer; jede andere Form von Rasierklingen — auch solche, die keine „Markenprodukte“ sind — ist mindestens 250 Prozent teurer.

Das ist — bei Licht betrachtet — absurd. Die Bedingungen der industriellen Produktionsweise von Massengütern dürften bei den gar nicht so verschiedenen, nur künstlich inkompatibel gemachten Wechselsystemen zu ähnlich geringen Kosten wie bei der Herstellung eines Einwegproduktes führen, die Preise sind absurde Mondpreise. Dennoch gibt es diese Preisunterschiede, und die „Kräfte des Marktes“ führen nicht dazu, dass sich der „Marktpreis“ einem realen Wert anpasst.

Wie kommt es dazu?

Eine wesentliche Ursache für solche Erscheinungen ist es, dass der von den p’litischen Predigern der totalen Vermarktwirtschaftung immer im Munde geführte Markt gar nicht mehr existiert. Ein Markt ist ein (oft auch abstrakter) Ort, an dem Angebot und Nachfrage aufeinander stoßen; im Prozess des vernünftigen Ringens der Marktteilnehmer entsteht dort ein Preis für die Güter, der Marktpreis. (Spezialisten der so genannten „Wirtschaftswissenschaft“ mögen mir diese sehr knappe Zusammenfassung verzeihen.) So weit die theoretische Vorstellung vom Mechanismus des Marktes, die zunächst recht einleuchtend klingt.

Damit dieser Mechanismus funktionieren kann, muss eine Nachfrage existieren, die in einer gewissen Relation zum Angebot steht. Und genau das ist nicht mehr der Fall. Statt dessen kommt es unter den Bedingungen der industriellen Produktion zu einem Überangebot an vielen alltäglichen Gütern, das an sich zu einem Zerfall der Preise führen müsste. Gäbe es nur den Mechanismus des Marktes, so würde sich für einige Produzenten die Herstellung der Güter nicht mehr lohnen; es wäre kein Gewinn damit zu erzielen — diese verschwänden denn vom Markt.

Wie kommt es aber, dass unter den Bedingungen eines Überangebotes absurde Mondpreise genommen werden können und Güter zu diesen absurden Preisen gekauft werden?

Es liegt daran, dass Nachfrage für bestimmte Produkte künstlich geschaffen wird. Diesen Vorgang nennt man nebel-denglisch verschleiernd „Marketing“, deutlich deutsch „Werbung“ und im Volksmund trotz aller sprachlichen Blendgranaten aus den Massenmedien oft auch noch „Reklame“, gar nicht so selten mit einem wenig appetitlichen Präfix aus der Fäkalsprache versehen.

Die Aufgabe der Werbung ist die künstliche Schaffung einer Nachfrage, wo der Markt an sich gesättigt wäre und sich die Menschen ob dieses Umstandes über die geringen Preise freuen könnten. Es handelt sich dabei nicht um eine „Verbraucherinformation“, wie die Blendlaberer so etwas manchmal nennen. Um das zu bemerken, braucht man nur hinzuschauen. Es handelt sich vielmehr um eine gezielte Desinformation der Menschen, die etwas zum überhöhten Preis kaufen sollen, was sie häufig gar nicht benötigen.

Am Beispiel der Werbung für Rasierer und Rasierklingen kann man das ganz gut sehen. Es geht hier nicht um eine Information über die Produkteigenschaften, sondern um die mit allen Mitteln der Bildmagie aufgerichtete Botschaft, dass das beworbene Produkt seinen Käufer zum „richtigen Mann“ macht, einschließlich überwältigender sexueller Attraktivität und Aktivität. Vor noch gar nicht so langer Zeit brachte dieser synthetische Aberglaube aus der Schmiede von Werbefirmen den dummen Satz hervor: „Gilette — für das Beste im Mann“. Als wenn der Mann seine lästigen Stoppeln nicht außen hätte. 😀

Was ich beim Kaufen günstiger Rasierklingen erlebt habe, war also ein Symptom für den Zerfall des Marktes. Solche Symptome kann man überall sehen, wenn man nur hinschaut. Sie stehen im merkwürdigen Gegensatz zur alldurchwaltenden Forderung nach mehr „Marktwirtschaft“ in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhägen. Das grundlegende Konzept der Marktwirtschaft, eben der Markt, ist längst obsolet geworden.

Das gilt übrigens auch für den von Volksverblendern immer wieder als „Arbeitsmarkt“ bezeichneten Elends-Strich für dürftig bezahlte Maloche; hier zeigen schon die geschönten Statistiken der Bundesagentur für Armut Arbeit, dass ein Angebot besteht, dass deutlich über der Nachfrage liegt. Nur, dass die meisten Verarmten und Marginalisierten der Globalisierung nicht mal eben eine Werbeagentur damit beauftragen können, eine künstliche Nachfrage zu schaffen… :mrgreen:

3 Kommentare

  1. Die Sache mit den Rasierern ist eh so ein Ding. Früher gab es nur Nass oder elektrisch. Heute gibt es Nass mit 1 Klinge bis Nass mit bis zu 5 Klingen. Und natürlich weiterhin elektrisch – mit 1-3 Scherköpfen. Und natürlich elektrische Geräte, die auch nass können. Und ganz neu Nass-Rasierer, die mittels einer Batterie vibrieren und angeblich noch besser und bla. Wie beim Waschmittel, das immer weißer wäscht. Wenn das so zuträfe, würden wir heute beim Anblick von Weißwäsche angesichts des Leuchtens erblinden und uns mit den heutigen Nassrasierern die Haut aus dem Gesicht schälen.

    Gruß

    Alex

  2. Ein sehr guter Beitrag!!

    Ich kann dem leider nichts hinzufügen außer. Du hast recht.

    Über eines mache ich mir dennoch sorgen:

    Benutzt du deine Rasierklingen wirklich so lange bis die gar nicht mehr schneiden und du solche Kommentare wie „…mit ner Axt rasiert…“?? bekommst??

    Sachen gib´s Tz..Tz..Tz

    Alexander Stritt

  3. Zu Alexander Stritt:

    Über eines mache ich mir dennoch sorgen:

    Benutzt du deine Rasierklingen wirklich so lange bis die gar nicht mehr schneiden und du solche Kommentare wie „…mit ner Axt rasiert…“?? bekommst??

    Ganz kurze Antwort: Ja. (Ich denke mir solche Geschichten vom Rand meines Lebens nicht aus.)

    Etwas längere Antwort: Es ist für mich leicht, beim Betteln abgelaufene Lebensmittel zu bekommen. Seit ich nur noch vom Betteln und von dem, was mir kampflos gegeben wird lebe, habe ich eine richtige Wampe bekommen.

    Aber das bisschen Geld, das ich dabei bekomme, ermöglicht mir nicht immer, das zu kaufen, was ich gerade brauche. Es gibt ja jede Menge Ausgaben, die unvermeidbar sind. Ich trage zum Beispiel Kleidung, die nicht stinken soll und nicht dreckig aussehen soll; beides senkt meinen Erfolg beim Betteln, da man hier anscheinend nicht gern dem gibt, der es deutlich sichtbar nötig hat. Deshalb ist es wichtig, dass ich meine Klamotten regelmäßig wasche.

    Und so — es war nur ein kleines Beispiel — hat auch ein Bettler seine regelmäßigen Unkosten und versucht mit beschränkten Mitteln so sparsam wie möglich zu leben…

    Wofür es mir denn am Ende so oft fehlt, das sind solche kleinen Dinge für die Körperpflege. Und denn sehe ich eben aus, als würde ich mich „mit der Axt rasieren“. Ein bisschen spiegelt das auch den verzweifelten Selbsthass, die völlige Aussichtslosigkeit und eine auf den erlösenden Freitod deutende Unerträglichkeit meines Daseins wider. Aber solche Töne lasse ich hier nicht so gern über ein anonymes Medium anklingen; sie klingen auch dann aufdringlich nach Effektheischerei und Gejammer, wenn sie es gar nicht sind.

    Sachen gib´s Tz..Tz..Tz


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