Die niedersächsische Landeshauptstadt, idyllisch an der Kreuzung der Autobahnen A2 und A7 gelegen, wird angesichts ihres schlechten Rufes von Ortsfremden oft gewaltig unterschätzt. Sie sagen sich: „So schlimm kann es doch nicht sein.“ Sie täuschen sich.
Es ist relativ leicht, in Hannover zu leben. Das beweist die gute Million der Einwohner einer durch Eingemeindungen stets gewachsenen Stadt, diese schaffen es ja auch jeden Tag. Und wem’s nicht so leicht fällt, der geht zum Arzt und holt sich Adumbran, Tavor, Valium oder ähnliche Hilfsmittel. Die Homöopathen nehmen täglich einen 20er-Kasten bitteren Bieres. Mit genügend Bier kann man’s sogar für schön halten, dort zu leben. Man darf nur nicht wieder nüchtern werden.
Die Einwohner Hannovers sind freundliche Menschen, aber auf eine sehr subversive Art. Man bemerkt diese Freundlichkeit nicht, sie wird gut getarnt und begegnet einem im Alltag als ignorante und griesgrämige Gleichgültigkeit. Hannover ist eine ideale Stadt für Menschen, die schon mit dem Leben abgeschlossen haben, aber nicht den Mut zum Freitod aufbringen. Man ist dort unter sich, und die im öffentlichen Raum einander begegnenden Entseelungsreste haben Verständnis für die Stumpfheit des Anderen. Sie zeigen das Verständnis nur nicht.
Man tut sich eben nichts. Auch nichts Gutes. Die hannöversche Körperhaltung ist leicht eingesunken, mit gesenktem Haupt blickt man entschlossen zu Boden. Irgend etwas am Boden findet der Hannoveraner auf eine schwer verständliche Art faszinierend. Zugereiste brauchen oft Jahre, bis sie diesen apathischen Blick überzeugend hinbekommen. Aber so lange hält es kaum jemand aus.
Offene Äußerungen der Lebensfreude hält der gemeine Hannoveraner für gefährlich. Die sicherste Methode, in dieser Stadt vollkommen zu vereinsamen, ist ein fröhliches Lächeln. Das macht dem Hannoveraner Angst und lässt ihm Schutz unter seinesgleichen suchen – in der ausgelieferten Situation einer U-Bahn wird der Blick des hannöverschen Entseelungsrestes dann zwanghaft auf die Faszination der vorbei rauschenden Betonwand gezogen. Unter diesen Bedingungen des Miteinanders haben eventuell entstehende Liebesbeziehungen den Charakter eines Unfalles, und sie verlaufen auch genau so.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das hitlersche norddeutsche Malochistan zum Ziel für die britischen Bomber, die ihre laut knallende Fracht auf die verschlafene Stadt an der Leine prasseln ließen. Nach Ende des Krieges wurden diese lobenswerten Abrissbemühungen fortgesetzt, sie bekamen nur einen anderen Namen. Man nannte sie „Stadtplanung“.
Die Stadtplanung in Hannover vergleicht man am treffendsten mit einer öffentlichen Toilette. Jeder darf ’mal d’rauf scheißen. Und so sieht die Stadt denn auch aus.
Als nach dem Krieg die Idee eines systematischen Neuaufbaus kam, wollten die Planer alles richtig machen, sie wollten eine zukunftssichere Stadt errichten. Und die Zukunft, das war das Auto, das war die Individualmotorisierung, das war die totale Automobilmachung. Also wurde das neu zu errichtende Hannover als auto-freundliche Stadt geplant. Deshalb hat’s auch die Gauleitung des ADAC (der bekannte Auto-darf-alles Club) nach Hannover gezogen. Dem gefielen nämlich die hübschen neuen vierspurigen Rasestraßen, die sich durch gewisse Wohngebiete zogen. Und damals fanden sie sogar die vielen Verkehrskreisel sinnvoll, schließlich muss Mitmensch Autofahrer dort nicht extra anhalten. Aber als dann wirklich wie geplant jeder ein eigenes Auto hatte, wurden die völlig überlasteten Kreisel zu Unfallschwerpunkten und allesamt nach und nach zu normalen Ampelkreuzungen zurückgebaut.
Wie es der Hannoveraner Kurt Schwitters schon sagte, „Hannover strebt vorwärts nach weit.“ Ein vernünftiges Ziel wäre vielleicht besser. Aber das liegt dem Hannoveraner nicht.
Und so wurde dann dem Hannoveraner etwas hingebaut, worin er zu leben hat. Es ist durchaus möglich, eine Innenstadt wie die hannöversche Innenstadt zu gestalten. Es ist nicht direkt illegal. In Hannover hat man’s denn auch getan. Deshalb schaut der Schiller auf seinem Denkmalssockel so offen und sehnsüchtig in Richtung Hauptbahnhof. Er will weg, wie jeder Dichter und Denker, der noch ganz dicht ist. Schade, dass er aus Kupfer ist, sonst würde er gewiss davonrennen.
Und anders als in Schwitters trefflicher Beschreibung strebt Hannover nicht nur vorwärts nach weit, sondern auch abwärts nach tief. So hat man denn im Boom der Siebziger Jahre ohne weitere Not mitten in der Stadt einen Tunnel gebaut, einfach, weil man meinte, dass es unter der Erde in so einem Tunnel schön sei. Wer länger in Hannover lebt, der weiß, woher die Sehnsucht nach dem »unter der Erde« kommen könnte.
In diesem Tunnel, damals pseudo-südländisch als „Passerelle“ benannt, sollten kleine Läden allerlei Ware feil bieten. Die kleinen Läden kamen, eröffneten ihre Geschäfte und machten größtenteils schnell wieder pleite – nicht einmal jeder Hannoveraner mag’s gern unter der Erde.
Danach fand der Tunnel seine Nachnutzung als Regenschutz für die vielen Obdachlosen der Stadt und als Geschäftsgrundlage für den aufstrebenden Heroinhandel der Achtziger und frühen Neunziger Jahre. Der schmerzerfüllte Sprachwitz des aussterbenden denkenden Hannoveraners stellte die Wahrheit durch einfachen Vokaltausch im Namen wieder her und nannte diese ar(s)chitektonische Schandtat „Pisserille“.
Zumindest den Tunnel haben sie jetzt aber „gerettet“ in Hannover. Eine totale Umgestaltung des hohlen Hohlweges mit den modernen städtebaulichen Mitteln Glas, Stahl, ungemütlicher dunkelgrauer Stein und knüppelschwingender Sicherheitsdienst ermöglicht es einigen Läden der gehobenen Preisklasse, hier ein kleines Geschäft zu machen. Der Name wurde auch flugs geändert, und die ehemalige Pisserille heißt jetzt „Niki de Saint Phalle Promenade“, das hört sich doch gleich viel besser an. Wenn es doch nur so bunt wäre, wie’s der Name der Künstlerin verheißt!
Aber auch schon früher strebte man in Hannover nach Erdaushubarbeiten, und zur Verherrlichung Hitlers gruben hier Fronarbeiter ohne technische Hilfsmittel ein tiefes Loch, das anschließend mit Wasser gefüllt wurde: Den Maschsee, eine der Sehenswürdigkeiten, die der Hannover-Tourist im Pflichtprogramm hat. Diese bauliche Maßnahme ist gewiss ichtungsweisend für zukünftige Lösungen und Endlösungen des Arbeitslosenproblems, warten wir ’mal den nächsten Regierungswechsel ab. Es geht eben abwärts nach tief, und Hannover ist da schon immer gern voran geschritten.
Neben dem Maschsee gibt es noch eine weitere so genannte „Sehenswürdigkeit“, und das ist der große Garten von Herrenhausen. Dieser neoklassizistische Garten wurde unter der Regentschaft des welfischen Königshauses angelegt, obwohl die hohen Herren den größten Teil ihrer Zeit in Venedig verbrachten, um dort den Inhalt der Staatskasse in siebenmonatigen Karnevalsfeiern unter beachtlicher Prachtentfaltung zu verprassen. So sehr man die Prunksüchtigen in ihrem Streben heraus aus Hannover verstehen kann, so sehr zeigt sich in solchem Verhalten auch jener geistige Zerfall, der sich bis zu den sonderbaren Schranzen des jetztzeitigen welfischen Sprosses durchzieht, des feinen Pinkel-Prinzen Ernst August von Hannover. Der ist übrigens auch lieber irgendwo anders in Europa.
Wer meint, dass es in einer Millionenstadt wie Hannover doch wenigstens ein bisschen kulturelles Leben geben müsse, der ist definitiv an die falsche Stadt geraten. An Stelle einer lebendigen Kultur finden sich die wie einbalsamiert wirkenden Darbietungen des Opernhauses, in denen man überwiegend Tenören bei ihrem dreistündigen Sterben zuhören kann, die leblosen Inszenierungen der hannöverschen Theater und ein paar Museen, die eher wie Pflichtübungen wirken. Was an beachtlichem und besuchenswertem übrig bleibt, das ist das Sprengel-Museum, das Kestner-Museum und die Kestnergesellschaft. Dies sind allerdings auch die Orte, an denen man kaum einen Hannoveraner zu Gesicht bekommt.
Wer wenigstens auf so etwas wie ein „Nachtleben“ hofft: Es gibt ein kleines Rotlichtviertel. Es ist ein sehr christliches Rotlichtviertel. Es sieht aus, als würde die Höllenstrafe gleich mit der Sünde mitgeliefert.
Irgendwelche Cafés oder sonstige Treffpunkte, an denen sich Kunstschaffende, kulturell Interessierte oder Austausch suchende Menschen treffen, sucht man in Hannover vergeblich. Dafür gibt’s jede Menge Kneipen, in denen man die Bundesligaspiele betrachten kann, wenn man’s denn will. Das trifft eher das Interesse des Hannoveraners. Besonders, seitdem die zur Stadt gehörende Mannschaft wieder in der Bundesliga mitspielt.
Da darf der Hannoveraner denn einmal wöchentlich unmaskiert so sein, wie es seiner Wirklichkeit entspricht. Da darf er kollektiv gröhlen, hastig nach dem Bier grabschen und seine verkümmerten Waden erzittern lassen, wenn der Flimmerball an die Latte scheppert. Manche gehen sogar in’s Stadion und proklamieren nach dem Spiel laut gröhlend und leere Flaschen auf die Wege deppernd durch die ganze Stadt, dass sie Geld dafür bezahlt haben, „ihrer“ Mannschaft beim Verlieren zuschauen zu dürfen.
Und einmal im Jahr gibt’s einen echten Höhepunkt für den Hannoveraner, eine kalenderabhängige kollektive Geisteskrankheit. Es handelt sich um das Schützenfest, das größte seiner Art in der Welt. Ob man nun schießt und als grün uniformierter Mensch seinen Spaß an dieser Betätigung mitteilen will, oder ob man als vergnügungssuchender Mensch über den großen Rummel wankt: Hier kommen Hirn und Leber auf ihre Kosten. ’Ne Bratwurst rin, ’ne Pilzpfanne dazu’e, ’n Bier druff, ’nen paar Lüttje Lagen (das ist so’n schwer zu erklärendes hannöversches Getränk, ein kleines Bier und ein Glas Korn werden mit einer besonderen Trinktechnik hastig runtergestürzt) hinnerher, rin inn’e Achterbahn zum Durchmisch’n, Mageninhalt utkotzen un’ dann dat gante von vorn. Ein Spaß für die ganze Familie! Ganz so, wie es schon der Name des Maskottchens zum Fest verspricht: Ballerkalle.
So richtig verstanden hat der Hannoveraner die Idee der Evolution nämlich nicht. Als sich der Rest der Menschheit fröhlich vom Affen zum Menschen entwickelte, da zogen die Vorfahren der Hannoveraner in die sumpfige norddeutsche Tiefebene, wo verregnetes Wetter und die ewige Mückenplage ihrem Gemüt so zart entgegenkam. Und dort gründeten sie Hannover als Bastion gegen jeden weiteren Fortschritt des Menschen. Sie gruben sich dort regelrecht ein. Sie sind vom Boden fasziniert, weil sie sich eingraben wollen. Sie mögen Löcher. Große Löcher.
Und wer würde nicht irgendwie an ein großes Loch denken, wenn er so einen prominenten Hannoveraner wie Gerhard Schröder im Fernsehen oder auf Plakaten sieht?