Dichtersuche

Der Vizepräsident unser aller Volkszertretung, Wolfgang Thierse (SPD), hat – wegen des allgegenwärtigen Tretens nach hohlem Leder von der breiten Masse kaum bemerkt – der Nationalismus-Kritik der GEW und insbesondere der Kritik am Deutschlandlied als Nationalhymne widersprochen:

Das sei völlig unberechtigt, „vor allem in Bezug auf die dritte Strophe, die heute als einzige gesungen wird“, sagte Thierse: „Die Strophe ist lange genug diskutiert und geprüft worden.“ Thierse sprach sich dagegen aus, die Hymne zu wechseln und künftig etwa Brechts Kinderhymne zu singen.

Ein klares Machtwort von den Seiten der Mächtigen, die abzusingende Strophe ist genug diskutiert und geprüft. Und damit hat denn auch Schluss mit weiterer Diskussion und Pprüfung zu sein, so ist das nun einmal in einer Demokratur. Basta! Schließlich kann man ja nicht einfach so ein Liedchen auswecheln, das nicht einmal im Grundgesetze fest gelegt ist – während eine tägliche P’litik gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes kein besonderes Problem ist. Und jetzt kümmert ihr euch wieder um Fußball, ihr blöden Stimmviecher, während wir mit dem Ausverkauf Deutschlands und seiner Menschen weitermachen! So werden wir schon wieder einig gegen Recht und Freiheit.

Manchmal scheint es allerdings, als wenn Herr Thierse – dessen p’litische Laufbahn ja damals recht mutig am „runden Tisch“ begann, während das Kohlregime mit gezieltem Einsatz von Geld und Llüge die DDR aufkaufte – noch nicht ganz so stumpf ist wie der Rest dieser Berliner Bande. Und deshalb musste er sein Machtwort in bemerkenswerter und recht unverschämter Weise fortsetzen, um es etwas weniger autoritär klingen zu lassen – vielleicht hat er sich ja noch aus Zeiten der DDR daran erinnert, wie solches Reden von oben herab bei den Fühlenden und Denkenden unter den Menschen ankommt:

Stattdessen regte er einen Wettbewerb an, um dem Deutschlandlied eine zweite und dritte Strophe hinzuzufügen. „Nur eine Strophe ist ein bisschen wenig Text“, sagte Thierse: „Bislang hat sich leider kein Dichter gefunden.“ […]

Nun, verehrter Herr Vizepräsident, es ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen, dass da ein Dichter gesucht würde. Oder habe ich da in den letzten Jahren etwas verpasst? :mrgreen: Wenn ich solche laut tönenden Verlautbarungen in die beflissenen Mikrofone der Reportermeute lese, kann ich es nicht vermeiden, mir vorzustellen wie Herr Thierse erwartet, beim Schlendern durch die Lobby des Reichstages (die offizielle Bezeichnung dieses Baues lautet übrigens schmerzsprachlich und ganz undichterisch bürokratisch »Plenarbereich Reichstagsgebäude«) über einen verirrten Dichter zu stolpern, der ihm zwei neue Strophen für das Lied der Deutschen aufdrängelt. Und denn natürlich auch noch zwei Strophen, die ihm und der dort konzentrierten p’litischen Kaste gefallen. Offenbar hat Herr Thierse noch gar nicht bemerkt, dass der Hofdichter im Zeitalter der Bildzeitung längst aus der Mode gekommen ist. Das kann man aber auch angesichts der Zustände in unserer real existierenden Demokratie schon einmal vergessen… 😆

Aber wenn sich denn wirklich kein Dichter gefunden hat — ich stelle mich gerne für diesen großen kleinen Dienst am Katerland zur Verfügung. Hier ist mein Vorschlag für die zweite und dritte Strophe der deutschen Nationalhymne, mit deutlich sarkastischem Unterton zur bekannten Melodie von Haydns »Gott erhalte unsern Kaiser« zu singen, direkt folgend auf die dritte Strophe des »Liedes der Deutschen« von Hoffmann von Fallersleben:

Recht und Freiheit sind nicht wichtig
wenn wir alle „einig“ sind;
und damit wir „einig“ bleiben,
macht man uns mit Worten blind:
„Zukunft“, „Wirtschaft“ und „Reformen“ –
bis das ganze Land verreckt.
Sie verkaufen unser Deutschland,
ihr Verräterlohn ist gut versteckt.
Sie verkaufen unser Deutschland,
ihr Verräterlohn ist gut versteckt.

Darum lasst euch nicht verblenden
von der Lügner schönem Wort!
Tut nicht, was die Gauner wollen,
sondern jagt sie schnell hinfort!
Denn für diese Lügenmäuler
sind die Menschen scheißegal.
Ohne diese Volksverdummer
Endet vieler Menschen Lebensqual;
ohne diese Volxverdummer
wird’s mit Deutschland vielleicht noch mal.

Na, Herr Thierse, zufrieden… 👿

Zur Inflation der Winkelemente

Es ist ja nicht so, dass ich mir selbst gegenüber völlig unkritisch wäre (auch wenn einige Leser das leicht denken könnten), und so stelle ich mir manchmal auch Fragen zu mir selbst. Warum nur, so frage ich mich, warum nur störe ich mich daran? An diesen ganzen Wimpeln und Fähnchen und Fahnen in bundesdeutschen Farben, die gegenwärtig an allen möglichen und unmöglichen Stellen aufgehängt werden.

Es könnte mir doch eigentlich egal sein. Die Unwelt , in der ich meine trüben Tage fristen muss, ist voll von kranken, hässlichen und dummen Dingen, die mir oft in monströsen Dimensionen gegenüber treten. Da sollte diese relative Kleinigkeit doch nicht über die quasi magische Macht verfügen, mich zusätzlich zu betrüben. Aber unabhängig von solchen oberflächlichen Rationalisierungen betrübt und nervt mich dieser Unsinn, und bis vor ein paar Stunden blieb dies die mechanische Reaktion auf eine völlig unbewusste Wahrnehmung – eben so lange, bis ich mich inmitten der Besinnungslosigkeit besann und mich bemühte, unbewusstes Wahrnehmen und stumpfes Reagieren in Verstehen und vielleicht sogar Vernunft zu verwandeln. (Das mit der Vernunft ist wirklich schwierig.)

Dieser Prozess mit der Erkenntnis begann mit der Frage, was es denn sei, was Menschen dazu bewegt, sich so scheinbar nationalistisch zu verhalten. Einige lautstarke Kommentatoren in den großen Medien sehen – oder besser erwunschträumen sich – in diesem massenhaften Verhalten von Massenmenschen ja schon das aufkeimen eines neuen deutschen Nationalstolzes, der die traurigen Traumata des zwanzigsten Jahrhunderts abzustreifen beginnt. Und dann werden sie, wo sie aus dem Content Kultur heucheln müssen, nicht müde zu erwähnen, dass es doch auch einiges gäbe, worauf man „als Deutscher“ durchaus mit Stolz blicken könnte: Goethe, Kant, Leibniz, die wissenschaftlichen Leistungen und vieles mehr, und schließlich sei Deutschland ja auch gar nicht so hässlich und habe seine ganz eingenen Reize…

Was diese verträumten Blendredner allerdings übersehen, ist die Tatsache, dass sich dieser wohlgelenkte „Nationalstolz“ überhaupt nicht auf solches richtet. Dieser „neue Stolz“ „der Deutschen“ hat weder etwas mit den bunten und oft auch dumpfen landsmannschaftlichen Eigenarten der Bewohner jenes schwer definierbaren deutschen Kulturraumes in Europa zu tun, noch hat er etwas mit dem Staatswesen BRD zu tun. Außerhalb solcher besonderen Zeiten wie dieser Fußball-WM haben die meisten Menschen dieser Region auch eine viel weniger erfreute Haltung gegenüber der Kultur und P’litik in Deutschland, weshalb ihnen aus den Reihen der p’litischen Kaste gern eine gewisse Neigung zur Nörgelei und zum Negativismus vorgeworfen wird.

Nein, dieser gegenwärtige und in vielen infantil anmutenden Eigenarten seiner Erscheinung schon pathologisch wirkende „Nationalstolz“ ist in erster Linie eine Reaktion vieler Menschen in Deutschland auf eine Inszenierung. Es handelt sich damit auch um einen inszenierten „Nationalstolz“, und gerade deshalb macht er oft für einen weniger mitgerissenen Betrachter in Deutschland auch so leicht den Eindruck einer Karikatur des Patriotismus . Im Gegensatz zu einer guten Karikatur kann einem allerdings beim gegenwärtigen Unsinn das Lachen schnell vergehen – es fehlt einfach der Witz darin, der einem lachen lässt, und an seine Stelle tritt tosend tierhafter Bierernst.

Nein, ich sehe nicht in jedem Deutschen, der gerade sein Fähnchen in den Wind hängt, einen Nazi – auch wenn mir das sicherlich wieder schnell und leicht vorgehalten wird. Eine solche Sicht wäre zwar in gewissen p’litischen kreisen populär oder erhielte doch wenigstens Zustimmung, sie wäre aber auch sehr kurzschlüssig.

Die Inszenierung, auf die von den Menschen so emsig Flagge zeigend reagiert wird, lässt sich beliebig vom „Thema Deutschland“ loslösen, sie hat außer ihren Austragungsorten in der BRD und der Tatsache der Teilnahme einer Mannschaft der BRD nichts spezifisch deutsches. Es handelt sich nur um eine große kommerzjelle Veranstaltung der Content-Industrie, um die größte kommerzjelle Sportveranstaltung der Welt, um die Fußball-WM 2006 der FIFA. Was die Menschen auf diese Veranstaltung reagieren lässt, ist nur das systematische Aufblasen dieser Veranstaltung zu einem medialen Großereignis durch Massenmedien, die für Massenmenschen produziert werden. Und der Grund für dieses inszenierende Aufblasen einer Veranstaltung ist keineswegs ein nationalistischer, sondern ein geschäftlicher – die berge von Tinnef, die mit Hilfe das psychischen Hebels Fußball an den Kauftrottel gebracht werden, legen davon so beredtes Zeugnis ab, dass weitere Worte hierzu für den Denkenden und Fühlenden kaum erforderlich sind.

Dieser von einer Inszenierung künstlich angefeuerte „Nationalstolz“ erweckt allerdings gerade in Deutschland gewisse erinnerungen an noch nicht lang vergangene Ereignisse im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust. Der durch die NSDAP unter der leitung des großartigen Werbefachmannes Dr. Joseph Goebbels angefachte und p’litisch instrumentalisierte „Nationalstolz“ trug den gleichen künstlichen Charakter mit sich, und er war in der Form seiner Inszenierung ebenfalls leicht von allem eigentümlich deutschen zu trennen – tatsächlich wurden die gleichen psychischen Mechanismen auch in verblüffend ähnlicher Weise innerhalb anderer Ethnien zum Zweck der Propaganda eingespannt. Die einzige Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Unterfangens scheint es zu sein, dass die Menschen unter der von einer industriellen Entwicklung verursachten künstlichen Not im produzierten Überfluss ihre Individualität aufgeben und an technokratisch verfasste Strukturen abgeben. Aus der mehr unbewussten Wahrnehmung dieser Parallele mag das dumpfe Unbehagen enthüpfen, dass viele wachere Menschen in Deutschland zurzeit verspüren, aber doch kaum angemessen artikulieren können.

Der wesentliche Unterschied in dieser Inszenierung liegt in ihrem anderen Zweck; es handelt sich um eine Inszenierung für eine neue p’litik, für die totalitäre Wirtschaft der zerfallenden Moderne. Die Ähnlichkeit der verwendeten Formen in der Propaganda mag man für ein diffuses Spiegelbild des nach wie vor faschistoiden Charakters industriellen Wirtschaftens halten – dieser Charakter offenbart sich ja zur Bestätigung dieses trüben Eindruckes auch anderwärts, etwa im Sprachgebrauch „wirtschaftlicher Interessenvertreter“: „human resources“, also Menschenmaterial; „lean production“, also die Betrachtung und Behandlung des Menschen als reiner, abzuspeckender Kostenfaktor, „globalisierung“, also die Anpassung menschlicher Gesellschaften an die Bedingung des lichtschnellen Flusses von Buchgeld über die ganze Welt – dieses und viele solcher Worte mehr offenbaren ein mechanistisch-wandkaltes Menschenbild, das durchaus auch die Idee nahelegt, irgendetwas fernab der von Fernsehkameras gelenkten Aufmerksamkeit der breiten Masse „endzulösen“. Und selbst dieses „endlösen“ findet schon statt, allerdings noch nicht meachanisch, industriell und mörderisch, sondern mehr durch Unterlassung.

Die Menschen, die gerade ihre Fähnchen durch die Luft flattern lassen, zeigen mit dieser Geste also nicht eine neue, vielleicht sogar gesunde haltung zu ihrer Heimat; sie dokumentieren ihre persönliche Heimatlosigkeit und den Ausverkauf ihrers Landes an eine totalitäre Wirtschaft. Das dabei aufkommende, gezielt medial inszenierte „Nationalgefühl“ ist in erster Linie ein kostenpflichtiges Surrogat für die verlorene Heimat, und damit übrigens ein sehr gutes Geschäft. Wer hier als massenhaft bewegter Massenmensch mitmacht und sich dem Feuer sythetischer Affekte hingibt, mag sehr patriotisch wirken, in Wirklichkeit beteiligt er sich aktiv am Ausverkauf Deutschlands. In diesem Licht verwundert es denn auch nicht weiter, dass die gleichen Menschen faktisch exterriotiale Zonen um die Austragungsorte und ihren Polizeischutz widerspruchslos hinnehmen, obwohl hier nur die finanziellen Interessen der Veranstalter geschützt werden. Ihnen ist Deutschland scheißegal.