Die schöne Lüge

Ein gefährlicher Falsch-Sinn ist’s, der sich in die Beurteilung gesprochener und geschriebener Mitteilungen bei so vielen Menschen eingeschlichen hat. Es wird nicht mehr danach beurteilt, ob das Mitgeteilte wahr oder unwahr sein könnte, sondern ob es als emotionell angenehm oder unangenehm empfunden wird — und die mit Unannehmlichkeit verbundene Information wird zurückgewiesen, und zwar nur deswegen, weil sie eben unangenehm ist.

Diese Haltung, deren Infantilität sich darin zeigt, dass sie an Astrid Lindgrens Kinderbuchfigur Pippi Langstrumpf erinnert (»Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt«), wird natürlich in der zeit-typischen entpersonalisierten und schein-objektiven Ausdrucksweise mitgeteilt. Wenn ein Mensch einfach nur sagen würde: »Was du da sagst, löst bei mir keine schönen Gefühle aus, und deshalb werde ich mich nicht weiter damit beschäftigen.«, dann wäre wohl jedem klar, dass es sich hierbei um Dummheit und grenzenlosen Narzissmus handelt.

Und so bezeichnen Menschen das, was ihnen gefällt, mit dem Adjektiv »positiv«; was ihnen hingegen nicht gefällt, wird als »negativ« benannt. Und mit der Krücke dieser Worte, die ja einen technischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und damit scheinbar objektiven Klang haben, wird es dann möglich, dass Genosse Mitmensch seine deformierte Gefühlswelt zum Maßstab für alles andere machen kann, ohne dabei gleich als so dumm und zurückgeblieben zu erscheinen, wie er’s in dieser Haltung doch nur oberflächlich verborgen mitteilt.

Mir wird immer wieder vorgeworfen, dass ich zu »negativ« sei, und zwar auch von Menschen, die durchaus für nicht-konforme Meinungen aufgeschlossen sind — wenn sie nur »positiv« sind, ihnen also gefallen. Würde ich genau wie diese meine Gefühlswelt in Blendworte kleiden, so müsste ich zustimmen: es ist durchweg recht »negativ«, was ich von mir gebe. Das liegt aber nicht daran, dass ich mich im apokalyptischen Freudentaumel an solcher Ausdrucksweise aufgeile, sondern nur daran, dass mein Reden und Schreiben den trüben und gammligen Zustand der jetztzeitigen Gesellschaft widerspiegelt, in der ich mein angeknackstes Dasein friste. Würde ich versuchen, »positiv« zu sein, dann müsste ich lügen.

Ich habe immer eher danach gestrebt, in meinem Leben, Reden und Schreiben »wahr« zu sein, auch wenn’s unangenehm war. Und genau nach diesem Kriterium, nach der Wahrheit, versuche ich anderer Menschen Mitteilung zu beurteilen — und zu verurteilen.

Natürlich habe ich die Wahrheit nicht gepachtet, verfalle ebenso dem Irrtum wie jeder andere Mensch und bin auch gegen die allgemein unter Menschen verbreiteten Dummheiten nicht immun. Das Elend ist nicht der Ort, an dem der Stolz verlernt wird. Und so mancher heutige Psychologe mit seinem weich gespülten Weltbild würde mir allein für diese Aussage ein »negatives« Selbstgefühl, vielleicht gar eine Depression unterstellen, der er mir dann gern kostenpflichtig behandelt, um meine »Funktion« wieder herzustellen. So weit sind wir gekommen, dass die Besinnung und die gleichermaßen kritische und selbst-kritische Reflexion als Krankheit betrachtet und behandelt werden kann; eigentlich ist’s da sehr erstaunlich, dass sich so ein Mensch immer noch so viel auf seine Intelligenz einbildet. Aber dieser Glaube an die Intelligenz klingt eben wiederum sehr »positiv« und ist aus diesem Grunde so beliebt, und das sogar bei Bildzeitungslesern und Lottospielern.

Aber wo ich mir der Wahrheit niemals sicher sein kann, da kann ich immer noch eines versuchen. Ich kann versuchen, wahrhaftig zu sein. Das ist in einem Umfeld, welches das Individuum verneint und unter Freiheit nur noch die freie Wahl aus verfügbaren Massenkonsumgütern versteht, bereits erschwert und mit einer gewissen Vereinsamung verbunden, die ebenfalls nicht »positiv« ist.

Was ist’s nun aber, was — unabhängig von meinen persönlichen Angelegenheiten — das Streben nach »dem Positiven« zu einem gefährlichen Falsch-Sinn macht.

Es ist die Tatsache, dass aus dieser Betrachtungsweise eine schön klingende Lüge einen Wert erhält, dass sie als etwas »Positives« marktfähig wird, ohne dass ihr mit dem angemessenen Zweifel und mit der ebenso oft angemessenen ätzenden Ironie begegnet wird. Im Dung der sich immer weiter ausbreitenden Wert-Schätzung des »Positiven« gedeiht eine ganze Industrie, die solche kostenpflichtigen Lügen dann auch produziert und die Hirne damit verschmutzt.

Nur ein Beispiel dafür sei die mit hohem Aufwand erstellte Werbung, in welcher Massenkonsumgüter mit einem ganzen Feld positiver Assoziationen und Aussagen belegt werden. Dass die Methode sehr wirksam ist, lässt sich daran erkennen, dass sie angewandt wird, obwohl sie hohe Kosten verursacht. Kein wirtschaftlich denkender Mensch würde diese Investition tätigen, wenn sie nicht eine Steigerung des Gewinns erbrächte, welche dann ein Mehrfaches dieser Aufwändungen wieder einspielte.

Da wird dann ein Junkfood wie Schokolade mit den Attributen der Jugend und Sportlichkeit verkauft, da wird gezeigt, wie glänzende Autos über leere Straßen hinweg gleiten und damit die Entfernung zwischen Orten überwinden, da werden gesundheitsschädliche Industrieprodukte, die zum Hohn auch noch Lebensmittel genannt werden dürfen, als Ursache der Gemeinschaft, der Freude und des Wohlergehens präsentiert. Natürlich ist das alles Lüge, aber es klingt eben auch sehr »positiv«.

Ich bin angesichts der Wirklichkeit meines Da-Seins und des Lebens meiner Mitmenschen inzwischen immer skeptisch, wenn ich Aussagen höre, die mir als angenehm erscheinen. Und das halte ich durchaus für eine persönliche Beschädigung.

Bleibt noch eine Sache übrig. Die Verwendung des Wortes »positiv« nicht allein für physikalische und mathematische Größen, sondern auch für die persönliche emotionale Resonanz auf Worte und Gedanken ist eine relativ moderne Massenverblödung. Wie ist sie entstanden?

Der erste Mensch, der sich — nach meinem fehlerträchtigen Wissen — mit dieser Sprachverschmutzung hervor tat, war der mir namentlich gerade nicht bekannte Autor des Buches »Denke nach und werde reich«; das war in den Achtziger Jahren ein ziemlicher Bestseller. Wer will schließlich nicht reich werden, immerhin spielt jeder zweite Bundesbürger regelmäßig Lotto, und das bestimmt nicht, weil es so viel Spaß macht.

In diesem Buch wird eine Methode vorgestellt, mit der man erfolgreich leben kann und es sogar zu Reichtum bringen kann. Natürlich hat der Autor darin nicht die Wahrheit geschrieben, diese würde etwa so lauten: »Setze dich hin und schreibe ein Buch, in welchem du der immer weiter verdummenden Menschheit versprichst, dass du eine Methode vorstellst, mit der jeder reich werden kann. Und wenn sie sich dann kaufend auf das Buch stürzen wie ein Schwarm Schmeißfliegen auf einen Haufen Scheiße, dann lehne dich zurück und zähle dein Geld. Und wenn’s dir dann immer noch nicht genug des Geldes ist, dann setze dich danach nochmal hin und verkaufe den Deppen todsichere Roulette- und Lotto-Systeme.«

Nein, das hat er nicht geschrieben. Sondern er hat geschrieben, dass man durch »positives Denken« reich werden kann. Und er hat sogar erklärt, warum das funktioniert.

Die ganze Erklärung werde ich hier nicht wiedergeben. Es handelte sich um Brachial-Psychologie und Okkultismus, hübsch in einem Mixer miteinander verquirlt, so dass man es kaum wieder auseinander bekam: Die Vorstellungen, die sich ein Mensch macht, sollten auf seine Welt einwirken, und so sollte jeder mit gezielten Manipulationen seiner eigenen Gedanken, insbesondere mit der Ausschaltung »negativer«, kritischer Gedanken sich die Welt so umgestalten können, dass er mit seinen Absichten Erfolg haben wird.

Also nur die Allmachtsphantasie jenes infantilen Narzissmus, der jedem Okkultismus zu Grunde liegt. Und damit schließt sich der Kreis zur Infantilität und zum Narzissmus des nur scheinbar erwachsenen Menschen, der mit Hilfe des Wortes »positiv« seine Gefühlswelt zum Maßstab für alle seine Urteile macht. Der Okkultismus war schon immer die Metaphysik des Dummkopfes, und das gilt auch für den modernen Okkultismus.

Abschließend an alle, die immer noch bemängeln wollen, dass ich zu »negativ« bin: Wir leben im Zeitalter der Arbeitsteilung, und schön verpackte Lügen erzählen hier schon genug Menschen, die zudem einen viel größeren Wirkungskreis als ich haben. Ich will so bleiben, wie ich bin — und ich darf das!

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